Eine Schicht auf der August-Bebel-Hütte

 

Endlich an der Hütte. ´Ne knappe halbe Stunde hatte ich aus der Holzhaussiedlung gebraucht. Ich blickte auf graue Gebäude, Rohrleitungen, Kühltürme und natürlich den langen Heinrich, den hohen Schornstein. Die Busse aus den Nachbardörfern kamen auch gerade auf dem großen Parkplatz neben der Straße nach Wimmelburg zum Stehen und brachten die neue Schicht. Eigentlich war es kein Tag zum Arbeiten. Heute kurz vor 13 Uhr Ende August 1977 schien die Sonne und es waren fast 20 Grad. Aber ich wollte ja etwas Geld verdienen.

 

Rein in das Büro- und Sozialgebäude und auf in die Weißkaue. Kaue heißt für die Nichteingeweihten der Raum zum Umziehen. Als ich hier vor knapp 2 Monaten anfing zu arbeiten, musste ich mich erst einmal daran gewöhnen, dass es keine Umkleidekabinen und Spinde, wie in der Eisleber Schwimmhalle gab. Die Weißkaue war eine Art Halle, und die Klamotten von mehreren hundert Belegschaftsmitgliedern hingen in einigen Metern Höhe. Ich suchte meinen Platz, öffnete das Vorhängeschloss und liftete die Kette. Der Kleiderbügel mit den 4 Haken darunter am Ende der Kette kam nach unten, und ich entledigte mich meiner gesamten Kleidung, die ich Stück für Stück an Bügel und Haken aufhängte.

 

So wie mich Gott geschaffen hatte, zog ich meine Sache nach oben, schloss ab und begab mich wie viele meiner Arbeitskollegen in die Schwarzkaue gleich daneben. Dieselbe Prozedur, nur dass die Arbeitssachen für mich bereithingen und ich mich anziehen konnte. Der Unterschied war aber gewaltig, denn die Arbeitssachen standen vor Dreck. Erst heute würde ich sie nachhause zum Waschen mitnehmen.

 

Dann ging es zur Arbeitsstelle, der Möllerung der August-Bebel-Hütte Helbra. Gestern hatte mir Brigadeleiter Tobisch vorsichtig beigebracht, dass ich heute im Fahrkreis 1 ohne Partner war. Ist zwar nicht erlaubt, aber was sollte man gegen Krankheit meines vorgesehenen Partners tun. Fahrkreis 2 würde doppelt besetzt sein, sodass bei Unfällen schnell Hilfe geleistet werden konnte. Ich bin ein Ungelernter, obwohl es hier kein Problem war. Ich hatte vor 2 Monaten mein Abitur bestanden, wollte studieren und meine Einberufung zum Wehrdienst Anfang November stand bevor. Also 4 Monate frei. Viele meiner Mitschüler machen Pause, mir irgendwie war das nichts. Mein Vater half mir, als Ungelernter auf der Hütte anzufangen, und meine jetzigen Kollegen waren nicht undankbar, dass jemand die Schichten mit absicherte. Da war die Urlaubsplanung flexibler, was für Familien in der Ferienzeit vorteilhaft war.

 

 

Mein erster Blick in der Möllerung galt der Sauberkeit, obwohl das Wort Sauberkeit vielleicht nicht richtig gewählt war. Aber ich entdeckte keine „Bombe“ und sah noch die Spuren des Kehrens am Ende jeder Schicht. Glück auf. Gabs Probleme? Gute Schicht. Schönen Feierabend. Und schon war ich allein mit einer ganz schönen Verantwortung. Wenn es auf meiner Arbeitsstelle eine Havarie gab, dann blieb die ganze Produktion stehen. Und das malte sich keiner aus!

 

Ich stellte meine kleine Tasche mit den zwei Bemmen und den 3 Flaschen Bolero (Orangenbrause) in der kleinen Bude ab und machte mich auf den Kontrollrundgang. Die Möllerung ist der Ort, an dem mehr als hundert selbstfahrende Kübel von oben mit dem beladen wurden, was in die Schachtöfen, dem Herz der Hütte, hineinkommt. Die Kübel, jeder fasste mehr als eine halbe Tonne Kupferschiefergestein, brachten das bei mir Eingefüllte hoch auf die Schachtöfen, Gicht genannt, und kippten alles in fünf Öfen, mein Fahrkreis. Leer kamen sie von oben wieder runter und wurden neu befüllt. Das ging 24 Stunden täglich und rund 350 Tage im Jahr.

 

Ja, was kam in die Öfen rein? Das war zuerst der Kupferschiefen aus den Schächten.  Vorher hatten ihn einige Kollegen mittels verschiedener Siebe etwas sortiert. Es gab Stücke von 10 bis 30 Zentimeter Größe, Schalen von 3 bis 10 Zentmeter Größe, die von mir gehassten Briketts und natürlich Steinkohlenkoks, denn Brennmaterial brauch ja jeder Ofen. Dazu wurden noch geringen Mengen Zuschläge, unter anderem aus Ilsenburg am Harz, den Öfen zugegeben, weil irgendwie der Kupferschiefer beim Verbrennen und Verflüssigen im Ofen chemisch mal basisch oder sauer reagierte oder der Kupfergehalt im Rohstein stabil gehalten werden musste. So genau habe ich das nie kapiert; war ja auch nicht wichtig für meine Arbeit.

 

 

Befüllt wurden die Kübel aus 16 Bunkern, wo alles lagerte. Mittels Rüttelrost und einer verbundenen Waage der Fa. Rapido, Karl-Marx-Stadt, kam die erforderliche Menge Kupferschiefer oder Koks in einen Behälter darunter, der sich unten öffnete, wenn ein Kübel darunter gehalten hatte. Ich musste jetzt die Kilogramm ablesen. Es konnte sich ja etwas verstellt haben, was bei der mechanischen Dauerbelastung der Anlage und den ständigen Staub kein Wunder wäre. Wenn sich der Behälter öffnete, ohne dass ein Kübel darunter stand, dann landete eine halbe Tonne Gestein auf dem Boden der Möllerung… Und den musste ich dann aufschippen und Schippe für Schippe in die vorbeifahrenden Kübel verteilen. Zum Glück gab es heute noch keine solche „Bombe“, die auf dem Boden der Möllerung lag.

 

Ich verzog mich in die Bude. Hier war man vom stetigen Lärm und dem Staub einigermaßen geschützt. Ich spitzte die Ohren, denn aus dem verschmutzten Fenster war nur wenig zu sehen. Die Hängekübel an den massiven Schienen fuhren nur in einem Meter Abstand vorbei. Deshalb war Hören angesagt. Die Musik der fahrenden, haltenden und anfahrenden Kübel, das herunterfallende Gestein, das Klicken und Knacken von Schütz und Relais der Elektrik, das war meine Musik. Und wehe, es gab einen Missklang. Dann musste ich sofort raus aus der Bude und am besten im Vorfeld die Havarie beseitigen.

 

Er konnte passieren, dass ein Kübel noch geöffnet von der Gicht kam. Wenn ich das nicht im Vorfeld mitbekam, dann hatte ich eine Bombe liegen. Auch fuhren mal zwei oder drei Kübel zusammen. Ihr Abstand war normalerweise ca. 5 Meter, und sie fuhren Schrittgeschwindigkeit. Aber wenn einer hielt, um befüllt zu werden, dann musste der dahinter Fahrende ebenfalls kurz halten. Wenn nicht, dann war ich gefragt.

 

 

Die ganze Befüllung der Schachtöfen war für mich sowieso eine Art Wunder. Jeder der hundert Kübel wusste genau, unter welchem Bunker er halten musste, welche und wie viel Ladung er bekam, und wenn er oben auf der Gicht der Öfen war, in welchem der Öfen er die Ladung reinkippen sollte. Dann wurden Kübel auch noch hydraulisch geschlossen und das Ganze ununterbrochen ein ganzes Jahr lang. Ich war mal in der Schaltwarte, Automatik genannt. Dort saßen für alle 10 Schachtöfen zwei Kollegen, die irgendwelche Messwerte im Auge behielten und ab und zu ein paar der -zig  Schalter bedienten. Der Rest funktionierte automatisch, das Wort Computer war wahrscheinlich noch nicht erfunden. Aber genial war die Technik schon, auch wenn Monitor, Tastatur und Maus fehlten.

 

Rumms, rumms. Einige Kübel fuhren zusammen und stießen sich gegenseitig an, bei mehr als einer Tonne Kübelgewicht. Ich verließ schnell meine Bude. Da ist wohl etwas Dreck in die vielen kleinen Schalter der Elektrik gekommen. Ich schaltete Strom ab, stellte den Leerlauf ein und schob die Kübel wieder auseinander. Schnell musste der diensthabende Elektriker ran. Ein Anruf in der Automatik und mein Kollege schaltete wieder Strom zu. Drei Minuten Stillstand, das hielten die Öfen aus.

 

 

Kurz nach Schichtmitte löste mich Manfred von Fahrkreis 2 ab. Ich ging essen. An den Schaltern der Essenhalle gab es einige Gerichte zu sehr moderaten Preisen. Ich setzte mich zu dem Kollegen von der Gicht. Kauen, ein paar Worte, nicht trödeln, denn meine Ablösung wollte auch noch essen gehen.

 

Auf dem Rückweg sah ich geöffnete Essen an den Öfen. Prost Malzeit.

 

Normalerweise geht der Rauch aus den Öfen gleich in die Gaswäsche. Dort wird Ruß und Schmutz aus dem Rauch herausgewaschen, und reines Gas bestehend aus CO, CO2 und SO2 bleibt übrig, um im Kraftwerk nochmal verbrannt zu werden. Der damit erzeugte Strom bediente die Elektromotoren „meiner“ Kübel. Der herausgewaschene Dreck war leider vorrangig Giftmüll. Jetzt stand also die Gaswäsche, und der Rauch aus den Öfen wurde ungefiltert in die Luft geblasen. Bei dem heutigen Südostwind sollte man im Helbraer Wohngebiet Lehbreite die Fenster schließen und morgen die Trabis waschen.

 

Eine halbe Stunde später waren die Essen wieder geschlossen und die Havarie in der Gaswäsche behoben. Bei einem meiner Kontrollgänge hörte ich die Sirene vom Ofenbetrieb. Abstich!

 

So ein Schachtofen macht ja nur aus festem Gestein flüssiges Gestein, das sich in einem sogenannten Vorherd absetzt. Nach meinen Physik-Kenntnissen oben die leichte Schlacke, die ständig abfloss. Darunter das Hauptprodukt Rohstein, eine Mischung aus 41 Prozent Kupfer und Eisen, Schwefel, taubes Gestein und andere Metalle. Dieser Rohstein würde dann in Hettstedt in reines Kupfer, andere Metalle und verschiedene andere Stoffe umgewandelt. Da gab es eine Bessemerei, eine Kupfer-Silber-Hütte, eine Saigerhütte, eine Bleihütte und was weiß ich noch. Jetzt wurde also einer der Vorherde geöffnet, und der flüssige, über 1000 ° heiße Rohstein floss heraus.

 

Die Schicht verlief heute ohne große Probleme. Einmal kam ein offener Kübel von der Gicht, wurde aber von mir rechtzeitig entdeckt. Pech hatte ich, als 450 kg Briketts direkt neben mir die zwei Meter vom Bunker in einen Kübel fielen. Ich stand plötzlich in einer Wolke Staub und bekam kaum Luft. Nicht aufgepasst. Die Briketts bestanden eigentlich aus kupferhaltigem Staub aus den Schächten und der Gaswäsche, die in einer Sinteranlage zu den Steinen gepresst war.  Leider war es keine 100-prozentige Sache.  Jetzt war eine Dusche nach der Schicht unbedingt notwendig. Eine „Bombe“ brauchte ich nicht weg zu schippen, und die letzte Stunde kehren war auch schon Routine. Die Ablösung kam pünktlich zehn nach neun, also 21:10 Uhr. Kurze Übergabe und ab zum Umziehen.

 

Aber vorher noch duschen. Man durfte nicht zimperlich sein, denn Duschkabinen gab es nicht. Zwanzig topverschmutzte Hüttenleute standen nebeneinander unter 20 Duschen, seiften sich ein, teils selbst, teils mit Hilfe des Nachbarn.

 

Nächste Woche war Geldtag. Girokonten gab es ja noch nicht. Zur Monatsmitte holte man sich am Lohnschalter 300 DDR-Mark Abschlag und zu Beginn des neuen Monats bekam man den Rest bar auf die Hand. Und ich war stolz auf mein erstes selbstverdientes Geld.

 

Es war dunkel draußen. Bei der Festbeleuchtung auf der ganzen Hütte hatte ich die Nacht kaum registriert. Jetzt nachhause und ins Bett. Morgen Mittag 10 nach Eins beginnt die nächste Schicht. Noch auf dem Weg sah ich, wie sich der südliche Himmel rot färbte. Es wurde wieder heiße Schlacke abgekippt und den roten Schein konnte man kilometerweit sehen.      D.Schulze